Eine Kritik von buxtebrawler (Bewertung des Films: 8 / 10) eingetragen am 28.10.2020, seitdem 114 Mal gelesen
Das Geheimnis der blauen Iris
„Das ist Pavlo, unser Faktotum!“
Der italienische Filmemacher Dario Argento, der sich zuvor in erster Linie als Schüler Bavas mit seinen gern zur sog. „Tier-Trilogie“ zusammengefassten Gialli „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“, „Die neunschwänzige Katze“ und „Vier Fliegen auf grauem Samt“ einen Namen gemacht hatte, legte mit seinem Übersatteln ins Horror-Genre im Jahre 1977 den Grundsein für eine tatsächliche Trilogie: „Suspiria“, dessen von Argento zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin Daria Nicolodi verfasstes Drehbuch lose auf Thomas de Quincey Prosasammlung „Suspiria De Profundis“ und dessen Beschreibung dreier Hexen sowie Überlieferungen Darias Großmutters, einer ehemaligen Ballettschülerin, basiert, wurde nicht nur zu einem vollen Erfolg an den Kassen der Lichtspielhäuser, sondern stellt bis heute eine unnachahmbare Stilikone des Genres dar.
Die blutjunge US-Amerikanerin Suzy Bannion (Jessica Harper, „Phantom im Paradies“) reist nach Deutschland, um an der Freiburger Tanzakademie Ballett zu studieren. Als sie sich per Taxi vom Münchner Flughafen in die Freiburger Escherstraße fahren lässt, wird sie Zeugin, wie eine junge Frau aus der Ballettschule zu fliehen scheint. Suzy indes verwehrt man den Einlass. Am nächsten Morgen jedoch empfängt ihre Lehrerin Mrs. Tanner (Alida Valli, „Schwarze Messe der Dämonen“) sie freundlich, muss ihr jedoch auch eröffnen, dass es in der letzten Nacht zu einem furchtbaren Todesfall gekommen sei. In der Tat wurden die junge Frau, die Suzy beobachtet hatte, und deren Freundin in einem Hotel von dämonischen Kräften ermordet. Suzy versucht sich einzuleben und findet in Sara (Stefania Casini, „Andy Warhols Dracula“) eine Freundin, die mit der Toten befreundet war und Suzy anvertraut, dass ihr die Akademie nicht geheuer sei: Seltsame Dinge gingen vor sich. Nachdem sich mysteriöse Ereignisse häuften und eines Tages auch Sara verschwunden ist, stellt Suzy auf eigene Faust Nachforschungen an…
Man merkt „Suspiria“ durchaus an, dass Argento vom Giallo kommt, sei es durch die von außerhalb, gar aus dem Ausland, eindringende Figur, der es schließlich obliegt, einem Geheimnis auf die Spur zu kommen, sei es durch das wichtige Detail, das diese Figur aufgeschnappt hat, es aber noch nicht zu dechiffrieren versteht. Wesentlich interessanter aber ist der visuelle Stil dieses Films mit seinen schaurig-schönen, expressionistischen Bildern, seiner aggressiven, die Technicolor-Möglichkeiten wiederaufgreifenden und ausreizenden Farbgebung und die aus ihr resultierende Farbdramaturgie sowie die Inszenierung von Architektur, die Argento etwas später in „Inferno“ auf die Spitze treiben sollte. Die Fassade des Freiburger „Haus zum Walfisch“ wurde als Studiokulisse nachgebaut und wird zum Einfalltor in eine oft unwirklich, beinahe surreal anmutende, bedrohliche Welt, in der nicht nur junge Frauen unangenehm herrischen, matronenhaften Leiterinnen ausgesetzt sind, sondern ein stummer Diener (Giuseppe Transocchi, „Töten war ihr Job“) als Faktotum bezeichnet wird, ein blinder Pianist (Flavio Bucci, „Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies“) plötzlich nicht mehr genehm ist, es Maden von den Zimmerdecken regnet und man nach Begegnungen mit unheilvollen Gestalten erst einmal das Krankenbett hüten muss – ganz zu schweigen vom fürchterlichen Röcheln, das sich nachts durchs Gemäuer hindurch an die Ohren der Schülerinnen bahnt.
Die Bezugnahmen auf den Künstler M.C. Escher wirken in diesem Zusammenhang wie ein Beleg für die bewusste Anreicherung des Films um surrealistische Motive, die ihm zusammen mit der visuellen Darreichungsform etwas Märchen- und Fiebrig-Alptraumhaftes zugleich verleihen. Die Kamera scheint ein Eigenleben zu führen, umkreist ihre Figuren und lässt plötzlich von ihnen ab wie ein Insekt, das sich nicht nur für die Menschen, sondern für den ganzen Raum interessiert, unstet suchend und in seinen Bewegungen schwer vorauszuahnen. Bereits die im strömenden Regen spielende Eröffnungssequenz ist eine meisterhafte Inszenierung nicht nur puren Terrors, sondern auch jugendlicher Angst vor dem Unheil aus dem Dunkel – und der eigenwilligen Zelebrierung und Ästhetik des Todes, wenn Argento in einer irren Bildabfolge Gewalt und tödliche Kettenreaktionen in mit Kunstblut verzierte Mädchenleichen kulminieren lässt. Das Prinzip ist nicht neu, hier aber besonders eindrucksvoll präsentiert.
Ein echter Besetzung-Coup war die Verpflichtung Jessica Harpers. Mit ihren großen Augen und ihrer Ausstrahlung erinnert sie an ein scheues Reh und weckt unweigerlich Beschützerinstinkte, doch im besten Stile eines Final Girls sieht das Böse sich in ihr getäuscht, denn sie wächst über sich hinaus – in einem Kampf, in dem Fäulnis und Verfall den Kontrast zur Blüte der Jugend bilden, die sich der Lebensenergie raubenden Macht des sich auf ihre Kosten künstlich am Leben haltenden Alten erwehrt. Dass die Hexenthematik des (mutmaßlich) in der Gegenwart des Entstehungszeitraums spielenden Films ebenso anachronistisch wirkt wie der unerbittlich maßregelnde und zum Konformismus erziehende, jedoch stets unter dem Deckmantel von Anstand, Sitte und Kultur elitär agierende Konservatismus der Akademie ist dabei sicher kein Zufall. Ausgerichtet hat Argento seinen Film voll und ganz auf die weiblichen Figuren; wie er namhafte Schauspieler wie Udo Kier („Hexen bis aufs Blut gequält“) und Rudolf Schündler („Der Exorzist“) auf die Nebenplätze verweist, ist beinahe provokant. Herausfordernd ist auch die grafische Gewalt, die sich punktuell auch über die Exposition hinaus durch den Film zieht und sich an blutigen Spezialeffekten ergötzt.
Damit bedient „Suspiria“ aller Entrücktheit zum Trotz indes auch Genreklischees, zu denen auch der intensive Einsatz von Unwetter, Blitz und Donner zu zählen ist. Während sich daran sicherlich kaum ein(e) Genrefreund(in) stören dürfte, mutet Argentos Handlungsortspagat mitunter etwas befremdlich an: Dass eine Taxifahrt von München nach Freiburg eher ungewöhnlich ist, lässt sich nicht einmal an der Reaktion des Taxifahrers (Fulvio Mingozzi, „Frankenstein ‘80“) ablesen und spielte für Argento offenbar keine Rolle. Dass es den blinden Pianisten nach seiner Entlassung ins Münchner Hofbräuhaus verschlägt, wo er eine furchtbare Schuhplattleraufführung vermutlich nur aufgrund seiner Behinderung zu goutieren weiß, ist jedoch ein Bayernklischee, das mit dem eigentlichen Handlungsort – Freiburg – nun so gar nichts zu tun hat. Will sagen: Beide Städte verschmelzen bei „Suspiria“ auf ungünstige Weise miteinander. Dass sich Argento kaum über das Mindestmaß hinaus für seine Figuren interessiert und selbst die Biografie der Hauptrolle im Diffusen belässt, ist wiederum ein Indiz für die Gewichtung des Films zugunsten seiner audiovisuellen Erscheinung, weniger seines erzählerischen Inhalts. An der Imposanz eben jener Erscheinung hat die Progrock-Band Goblin entscheidenden Anteil, die einem mit ihren Stücken das Gruseln lehren und zugleich ein Klangerlebnis schaffen, das in seiner Dominanz und seinem Mut zur Eigenständigkeit über das so vieler anderer Horrorfilme hinausgeht und Goblin zum Durchbruch verhalf.
„Suspiria“ ist bewusst überaus artifiziell gehalten, und doch versteht es Argento, eine Vielzahl ganz wunderbarer Suspense- und Grusel-Szenen zu arrangieren und miteinander zu vermengen, die sein Publikum auf emotionaler Ebene mitnehmen. Von „Momenten“ zu sprechen verbietet sich da, vielmehr handelt es sich um von langer Hand vorbereitete und ohne falsche Hektik durchexerzierte Sequenzen. In Bezug auf die Klimax leisten sie jedoch auch einer Erwartungshaltung Vorschub, die die dann leider doch etwas profan geratene finale Konfrontation mit dem Bösen nicht erfüllen kann. Das Finale ist der vielleicht größte Schwachpunkt dieses ansonsten insbesondere auf großer Kinoleinwand faszinierenden, unverwechselbaren Films.
Dass „Suspiria“ der Auftakt einer Trilogie sein würde, war zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung gleichwohl noch nicht klar. Erst „Inferno“ rückt die Geschichte um die drei Hexen in den Mittelpunkt und enthüllt die Identität der Akademieleiterin Helena Markos als Mater Suspiriorum (Mutter der Seufzer).
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